Klischees machen Reisen für mich ja besonders interessant. Ausgestattet mit einer umfassenden Liste der gängigen Vorurteile habe ich mich während zehn Monaten in Lateinamerika* auf die Pirsch gemacht und genau hingeschaut: Leben die Latinos Salsa tanzend in den Tag hinein, sind sie wirklich so temperamentvoll, warmblütig und fröhlich, geniessen sie das Leben als ob es kein Morgen gebe? Meine Beobachtungen im Konzentrat.
Ahorita –
ist zweifelsohne zu einem meiner Lieblingsworte avanciert. Nicht nur aufgrund seiner frequentierten Verwendung in Lateinamerika, sondern vor allem auch seiner Bedeutungsvielfalt wegen: Ahorita heisst so viel wie “jetzt gleich”, “in drei Stunden”, “wenn ich dann soweit bin” oder auch “sobald (oder falls) ich Lust habe”. Dieser Reichtum an Bedeutungsmöglichkeiten ermöglicht uns auch mal ein paar zusätzliche Stunden im
Hühnerbus,
wartend auf die Abfahrt um Ahorita-Zeit. In den berüchtigten Hühnerbussen, gibt es zwar keine Hühner, jedoch verdienen die ausrangierten amerikanischen Schulbusse ihren Namen des abwesenden Komfortes wegen: Hier gilt oft Batteriehaltung für die Passagiere. Wer glaubt, schlimmer gings nimmer, sollte unbedingt Ausschau halten nach religiösen Symbolen im Bus, denn der
Katholizismus
erfährt hier seine eigene Auslegung. Je mehr Jesus und Maria, desto grösser die göttliche Protektion, ergo steigert sich die Kriminalität des Fahrstils. Nach so halsbrecherischen Fahrten scheint es nachvollziehbar, dass die unversehrte Ankunft in eine grosse
Party
mündet. Bevorzugterweise in Gesellschaft der ganzen
Sippe,
begleitet von ohrenbetäubendem
Reggaeton (wenn es ganz schlimm kommt),
Vallenato oder Cumbia (wenn es fast ganz schlimm kommt) oder
Salsa (wenn es nicht so schlimmt kommt)
der aus einem der im Wohnzimmer platzierten
Lautsprecher in der Grösse von Bücherregalen
dröhnt. Selbst in kleinen, scheinbar familiären und verschlafenen Orten, scheint der
Dorfkönig aufgrund der Wattstärke seiner Lautsprecher erkoren
zu werden. Zur lauten Musik wird mit viel Ausdauer und Freude stundenlang getanzt und so viel Tanzen macht selbstverständlich sehr durstig. Je später der Abend, desto mehr machen die Bierflaschen dem Hochprozentigen Platz. Eine, zwei, drei oder vier Flaschen auf dem Tisch, verschwendet wird aber nichts, denn die Latino-Regel lautet:
Solange die Flaschen nicht leer sind, dauert das Fest an.
Grosszügig, ja verschwenderisch, wird ebenfalls umgegangen mit
Plastikbeuteln.
An jedem Marktstand, in jedem Laden, bei jedem Bauchladen wird Einzelstücken ein eigenes Plastikbehältnis zugeteilt. Selbst Trinkwasser wird bevorzugterweise aus einem Plastikbeutel konsumiert, der, einmal leer, auf den Boden geschmissen wird. Das Resultat ist gut sichtbar: Plastiksäcke überall. Auf den Strassen, auf den Feldern, in den Flüssen, im Meer. Die Omnipräsenz von Kunststoff zieht sich hin bis zum bevorzugten Kleidermaterial: Kunstfasern überall, oder wie Jrène auf ihrer Reise mit uns so oft beim Betrachten von Kleidern zu sagen pflegte: “Ein Traum in Tüll!” Als Grundregel für die Kleiderwahl lässt sich ausmachen:
Je enger und synthetischer, desto besser.
Für Männer, Frauen, Mädchen und Jungs gilt dieser Grundsatz gleichermassen. Wobei speziell bei Männern, ein eng anliegendes Oberteil gerade Voraussetzung ist für ein, wie ich vermute, Merkmal der kulturellen Identität:
Das Shirt wird zur Bauchlüftung (-zur-Schau-Stellung) auf Unterbrusthöhe geschoben oder gerollt.
Je enger und synthetischer, desto besser und länger hält das Shirt. (Gute Unterstützung bietet hier natürlich auch ein stolzer Bauchumfang, allermeistens vorhanden). Die Synthetik-Liebe ist auch insofern nachvollziehbar, als dass vielerorts eine Waschmaschine fehlt und die
Kleider von Hand gewaschen
werden.
Mit viel Seife und noch mehr süss-duftendem Weichspüler.
Vielleicht auch deshalb, bestimmt aber nicht nur, trifft man nie schweisselnde Latinos:
Die Menschen riechen frisch geduscht.
Ein grosser Effort, wenn man bedenkt, unter welchen Umständen die tägliche Körperpflege stattzufinden hat, was es heisst, in Bogota bei 10 Grad am Morgen mit einem Schlauch kalten Wassers vor dem Haus zu duschen und mit nassen, langen Haaren zur Arbeit zu fahren (selbstverständlich kaum im eigenen, geheizten Auto) und an wie vielen Orten im Gegenteil oft über 30 Grad bei hoher Luftfeuchtigkeit herrschen. Überhaupt, Aussehen ist generell sehr wichtig. Hoch im Kurs bei den männlichen Latinos sind
Fussballerfrisuren und Fussballshirts.
Kann man bei einem Kleinkind das Geschlecht noch nicht ausmachen, so sieht man es spätestens am Fussballshirt, das schon Babyboys tragen. Dem Fussball frönen Gross und Klein, die Trainings werden mit überraschender Ausdauer und oft auch in grösster Hitze absolviert.
Himan, Jhon, Dilan und Usnavi
sprinten über den Rasen, während
Lady, Lazy, Jessica und Jennifer
am Feldrand zuschauen. Amerika, das gelobte Land, beeinflusst die Namenswahl. Oftmals unwissend über die Bedeutung der Namen (oder Wörter) und ungeachtet der Aussprache (aus Jessica wird Iessigga) und Bedeutung (US Navy wird zum Namen Usnavi). Die Verwunderung oder –wirrung nimmt noch anderes Ausmass an: Jessicas Mutter in Kolumbien nennt ihre Tochter gerne und oft
Mamita
ihren Sohn
Papi.
Verkleinerungen sind gross: Nicht nur bei Namen werden Diminuitive verwendet, es ist ziemlich alles möglich: -ita oder –ito am Wortende und schon klingt alles sehr viel lieblicher. Viel Liebe ist auch im herzhaften lateinamerikanischen Essen auszumachen. Oft dreht sich alles um Tiere. Eines meiner liebsten Frage-Antwort-Spiele:
“Leben hier auch (beliebige Tiere einsetzen)?” – “Ja, mmmh, die sind sehr lecker.”
Obsolet zu sagen, dass Vegetarismus oder gar eine vegane Ernährungsweise wenig Verständnis erfahren. Ich versuche es naiverweise aber gerne immer mal wieder, lasse mir vom Strassenverkäufer versichern, dass dieses Küchlein in seiner Vitrine fleischlos sei, beisse vorfreudig hinein um dann festzustellen, dass mein vegetarisches Empanada mit Poulet (und ein paar Rüeblistücken) gefüllt ist.
“Ist das Fleisch?” – “Nein, kein Fleisch, das ist Poulet.”
Es macht doch überhaupt keinen Sinn, auf das Beste zu verzichten, schliesslich:
ein Essen ohne Fleisch ist nicht komplett,
kommt gerne auch in gleichzeitiger Begleitung von
Reis und Kartoffeln und Bohnen und Kirchererbsen und Maisfladen.
Kohlenhydrate kommen nicht zu kurz. Anders Gemüse und Salat: Sie sind im besten Fall Dekoration. Dekoriert werden nicht nur Teller, sondern mit viel mehr Hingabe und Leidenschaft sowie mit maximal kitschiger Attitüde auch alle möglichen und unmöglichen Orte, wenn es auf heilige Tage oder Feste zugeht. Zum Beispiel
Weihnachten: Es blinkt und glitzert überall.
Kommen noch schrille Melodien dazu, meist aus Plastikfiguren klirrend, sind die Latinos schon fast im Himmel.
Im Himmel waren auch wir sehr oft während unserer langen Reisezeit durch Süd- und Zentralamerika. Wegen der unzähligen atemberaubenden Naturwunder, doch genau so sehr wegen der Menschen. Wir sind Latinos begegnet, die uns beeindruckten, inspirierten und, so hoffen wir, prägen. So beobachte ich einige Latino-Klischees bereits bei uns – und das gefällt mir.
*In den Topf Lateinamerika werfe ich hier unpräziserweise die von uns besuchten und selbstverständlich sehr unterschiedlichen Länder Belize, Bolivien, Costa Rica, Ecuador, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Mexico, Nicaragua, Panama und Peru.