“Wenn wir hier überfallen werden, bin ich nicht überrascht”, sage ich. “Nun ja, aber bestimmt nicht am helllichten Tag, inmitten all dieser Leute”, meint Ariel. “Du weisst, wer nichts zu verlieren hat, ist zu vielem bereit”, bedenke ich. Ich sollte Recht bekommen.
Wir erkunden Cali zu Fuss, waren eben auf dem Markt, tragen Früchte und Gemüse für unseren Lunch in Plastiktaschen. Nun noch noch rasch zur Panaderia, meiner Lieblingsbäckerei. Weit ist es nicht, ein paar Strassen. Die Richtung stimmt sicher, ich kenne mich schon etwas aus. Die Strasse der Sattlereien, die Malerstrasse, weiter in Richtung der Geschäfte mit den Eisenwaren. Wir rennen über die stark befahrene Strasse zwischen Bussen, Taxis und Motorrädern. Jetzt sind wir auf einer Staubstrasse, ein Wohngebiet, ein trauriger Ort. Ziemlich zugedröhnte Gestalten sitzen oder liegen zwischen zuvor für ein kleines Depot gesammelten Plastikflaschen und Karton, Schnapsflaschen haltend, lallend. Elend. Hier riecht es nach Rauch, nach Abfall, nach Mist. Angst und Hoffnungslosigkeit hängt in der Luft. Die Menschen sind dunkler als anderswo. Alte, Junge, auch Kinder sind da. Die Blicke, die uns treffen, sind nicht neugierig interessiert, sondern eher verwundert feindlich.
Wir haben ein flaues Gefühl im Magen. Ängstlich sind wir nicht, wollen das auch nicht sein. Wirkt doch Angst wie ein grosser Scheinwerfer, der das Befürchtete auf sich lenkt. Also versuchen wir unser Schlendertempo beizubehalten, nicht den Anschein zu erwecken, als ob uns unwohl ist und wir so rasch wie möglich weg wollten. “An der nächsten Kreuzung ist die Bäckerei”, versuche ich Ariel und wahrscheinlich mehr noch mich selber zu beruhigen.
Da kommen sie. Von hinten rempeln sie uns an. Vier Jungs, kaum älter als 18. Sie packen erst Ariel, entreissen ihm seine Tasche. Ich bekomme es halb verschwommen aus dem Augenwinkel mit. Ich bin gefangen zwischen zwei Jungs. “Die Tasche, gib mir die Tasche!”, schreit der vor mir. Ich sehe ein Zögern in seinen Augen, eine Unsicherheit, die mich für eine Sekunde meinem natürlichen Reflex der Verteidigung nachgehen lässt. Nein, sicher nicht meine Tasche, schiesst es mir durch den Kopf. Ich drehe mich ein wenig weg, sehe Ariel immer noch verschwommen, die andern Typen sind bei ihm, derjenige vor mir packt mich. Wegrennen? Wehren? Was macht Ariel? Haben die Waffen? WAAAARUM hilft niemand???? Kaum drei Meter links und rechts von mir sitzen Leute. Ganz ruhig, stoisch. Sie sehen mir in die Augen und bleiben ruhig. Keine Regung. Gar nichts! “Gib sie ihnen.”, höre ich nun Ariel. Ich sinke zu Boden, spüre, wie mir Urin die Beine runterrinnt. Ich bin verzweifelt, schockiert, schluchze. Die Typen rennen mit unseren Taschen die Strasse runter, biegen links ab.
Ariel hat sich schon wieder etwas gefasst. “Da vorne ist die Polizei”, sagt er und läuft in ihre Richtung. Zwei Polizisten auf Motorrädern sind aufgetaucht. Ich laufe in Ariels Richtung, sehe ihn aber plötzlich nicht mehr. Eine Horde Menschen umzingelt mich. Ich habe keine Angst mehr, schluchze noch immer. Was sollten die mir jetzt noch antun? Ein Mädchen streckt mir mein Portemonnaie entgegen. “Gehört das dir?” fragt sie leicht beschämt ohne mir in die Augen zu sehen. Bargeld weg, EC-Karte ist noch da. Keiner berührt mich, sie schauen nur. Jemand sagt ich solle trinken, ein anderer meint, nein nicht Wasser für sie, ein Schokodrink. Ich weiss nicht, wie mir geschieht, bin in einem andern Film.
Ariel taucht auf mit den beiden Polizisten. In den Händen hält er unsere beiden Taschen. Ich getraue mich nicht mal eine Sekunde daran zu glauben, dass sie die Typen fassen konnten. Alles, was die maximal doofen Touristen in ihren Taschen mit sich getragen haben, ist weg: Kamera, Bankkarten, Telefone, Bargeld und all die kleinen Dinge, die man so liebt. Scheisse. Wie dumm konnten wir sein.
“Eso es Colombia, eso es Colombia”, dies ist Kolumbien, schreit einer höhnisch neben uns. Immer und immer wieder. Die Polizisten schauen so hilflos drein wie sie sind, fragen uns, was wir hier wollten. Einer fährt los, angeblich um die Bilder der Überwachungskamera aufzutreiben, die genau am Ort des Überfalls montiert ist. Es sollte bei einem kümmerlichen Versuch bleiben. “Alles Diebe hier”, meint der Polizist, gleichermassen entschuldigend wie vorwurfsvoll.
Später erfahren wir, wohin wir ahnungslos in unbeschwerter Übermut gelaufen sind: Ins Quartier ‘El Calvario’, Calis offiziellen Drogen- und Rotlichtdistrikt. War es früher der Ort des zentral neben der historischen Altstadt gelegenen Markts, ist das Quartier seit der Zerstörung der Gebäude Ende der 60er-Jahre sich selber überlassen.
Hier leben hauptsächlich Landflüchtlinge und Tausende von ‘Campesinos’, indigene Bauern sowie Afro-Kolumbianer, durch den Krieg vertrieben. Ohne jegliche Perspektive gestrandet in Cali. El Calvario ist bekannt als ‘la olla’, der Dreck, ein Ort um Drogen zu kaufen oder auch als ‘la metedero’, ein Ort für Fixer und Freier, gesetzlich deklariert als ‘tolerance zone’ mit wenig polizeilicher Intervention. Dealer besetzen verlassene Gedäude und verkaufen hauptsächlich ‘basuco’ (abgeleitet von ‘base sucia de coca’), eine schmutzige Kokainpaste, die um ein Vielfaches abhängiger macht als Kokain. Zu den Konsumenten zählen zwar auch einige aus der Mittelklasse, hauptsächlich jedoch Menschen, die in den Strassen von El Calvario leben und ihren Stoff aus dem Verkauf von gesammeltem Abfall erwerben. Darunter auch viele Kinder.
Wie Adolfo Ochoa Moyano in seiner Reportage für El Pais erzählt, sind die Preise hier absurd, eine ‘papeleta’ kostet 300 Pesos (ungefähr 10 Rappen), weniger als ein halbes Kilo Salz. Dies gilt ebenfalls für den hier florierenden Handel mit Heroin, Kokain und Ecstasy: Eine Dosis Heroin kostet an andern Orten in der Stadt 25’000 Pesos, in El Calvario nur gerade 5’000. Dennoch sind die Margen enorm. Mit nur zwei Stunden Arbeit lassen sich 150’000 Pesos verdienen. Ein Vermögen, an einem Ort, an dem Schuhe 3’500 Pesos kosten, eine Jeans 1’000, eine Decke 700 oder es ein Mittagessen gibt für 1’200 Pesos. Wenig verwunderlich, dass sich neben Dealer inzwischen auch die sogenannten ‘sicarios’, Auftragskiller, im Quartier einnisten. Den Handel zu unterbinden scheint schwierig. Ein Anwohner, der Polizeipräsenz ankündigt, erhält von den Dealern 10’000 Pesos.
Cali, die drittgrösste Stadt Kolumbiens, gilt als die gefährlichste Stadt Kolumbiens und wird 2015 als die zehntgefährlichste Stadt weltweit eingestuft (gemäss ‘Bürgerrat für öffentliche Sicherheit und Strafrecht‘). Auf 100’000 Einwohner kommen hier 64 Tötungsdelikte. Zum Vergleich: 2014 waren es in der Schweiz 0.5. Ab einem Wert über 10 spricht die Weltgesundheitsorganisation von einer Gewaltepidemie.
Das Elend in El Calvario scheint schier unermesslich. Bitterliche Armut, Gewalt und Drogen dominieren. Das Durchschnittsalter liegt bei 35 Jahren. Ein Menschenleben zählt nichts.
Ich verstehe nun die Frage des Polizisten, was wir in El Calvario wollten. Und ich realisiere, was für ein grosses Glück wir hatten: Wir sind unversehrt, kamen mit dem Schock davon. Unsere Reiseversicherung deckt zumindest einen Teil des finanziellen Schadens ab.
2 Kommentare
Ds ist das, Problem, wenn Touristen ohne Informationen Reisen und landen in solchen Situationen. Kolumbien hat mehr und viel zum bieten. Die meisten Touristen kommen begeistern, solchen Risiken vermeiden.