Reise zu den eigenen Schwächen

Auch wenn meine primäre Motivation eine andere war, so unterstütze ich doch den Schriftsteller Le Clézio, der meint: «Im Grunde sollte es für eine Reise nie eine andere Begründung geben, als an ihr das eigene Unvermögen genau zu ermessen».

Noch hab ich nicht zu Ende geforscht, doch eines steht jetzt schon fest: Ruhe, Freiheit und Sicherheit haben für mich seit letztem Jahr einen überraschend neuen Stellenwert. Sie sind der wahre Luxus.

Ruhe. Einfach Ruhe. Mit allen Konnotationen: Viel Privatsphäre, kein Lärm, keine Aufregung, kein Gedränge, kein Unwohlsein, keine Erwartungen anderer, keine Angst. Um diese Ruhe zu finden, gehe ich mitunter ziemlich weit, denn in vielen Ländern ist sie die Ausnahme. In Südostasien und Südamerika herrscht auf den Strassen ein reger Betrieb von Frühmorgens bis spät in die Nacht. Autos und Mofas hupen, Verkäuferinnen preisen lauthals ihre Ware an, überall wird Fleisch und Fisch grilliert und frittiert, mobile Läden werden auf- und wieder abgebaut, Busse und Lastwagen fahren mit schwarzer Rauchfahne mitten durch, Bettler betteln (am liebsten bei Touristen), Bars überbieten sich im Dezibelkrieg mit schlechter Musik, Betrunkene schreien herum. Wer Städte wie Phnom Penh, Hanoi, Santa Marta oder Lima kennt, weiss, wovon die Rede ist.

Eine Zeit lang mag dieses bunte Treiben auch ganz aufregend, elektrisierend und schön sein. Aber dann kommt der Punkt, an dem ich nicht mehr kann – wenn mir die Luft fehlt, um richtig Atmen zu können, wenn die Hitze unerträglich wird, wenn ich dringend Ruhe brauche. Und die hat ihren Preis. Ein überteuertes Getränk zum Beispiel, in einem im westlichen Stil geführten Lokal, am liebsten mit Klimaanlage und Wifi. Oder noch besser: In den eigenen vier Wänden, natürlich mit Schlafzimmer, Küche und Bad, wo mich niemand stört. Und sonst verziehe ich mich, weg aus der Stadt und raus in die unberührte Natur, auch wenn ich dafür stundenlang fahren muss. Ich kann mir das zum Glück leisten. Doch was machen all die anderen, die Normalos und Verrückten auf den Strassen dieser Städte, sie, die keine anderen Möglichkeiten haben?

Die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will. Mit einer Kindheit und dem Geschenk einer Ausbildung in Westeuropa oder gar der Schweiz ist sie ganz besonders ausgeprägt. Und auf Reisen sowieso. Ich habe schier unbegrenzte Optionen, mache fast täglich neue Erfahrungen, kann meinen Horizont erweitern, bin frei. Ganz im Gegensatz zu den meisten Menschen, denen ich hier in Nicaragua begegne: Sie haben eine schlechte Ausbildung. Wenn sie nicht der Regierungspartei beitreten, werden sie sehr wahrscheinlich kaum einen Job finden. Wenn sie Pech haben, wird ihnen das kleine Grundstück, auf dem die Familie seit Jahren lebt, von irgendeinem korrupten Beamten weggenommen. Zu Reisen und Neues kennenzulernen wird ihnen sehr wahrscheinlich verwehrt bleiben. Die einzige Perspektive ist, sich ins Ausland – am liebsten in die USA – abzusetzen, um sich dort irgendwie durchzuschlagen. Die Warteschlangen vor den lokalen Western Union-Filialen sind zu jeder Tageszeit lang und beweisen: Die Leute hier sind nicht frei, sie sind auf die Hilfe ihrer ausgewanderten Verwandten angewiesen. Wie so viele auf der ganzen Welt.

Und Sicherheit. Ohne die gibt es wohl weder Freiheit noch Ruhe. Die Sicherheit, morgens aufstehen zu können und zu wissen, dass mein Geld immer noch gleich viel Wert ist. Dass die Regierung meines Landes einigermassen in meinem Interessen handelt. Die Sicherheit, vor Gericht gerecht behandelt zu werden. Am Abend alleine nach Hause gehen zu können, auch zu Fuss. Oder die Sicherheit, dass ein Versprechen zählt. Dass gemeinsame Werte vorhanden und verlässlich sind.

Dies ist alles andere als selbstverständlich. Wir sind in Kolumbien am hellichten Tag ausgeraubt worden, haben in Kambodscha die korrupten Machenschaften der Regierung erlebt, begegneten in Myanmar einem freundlichen, aber hart unterdrückten Volk, und haben auf Hawaii am eigenen Leib erfahren, wie sich das Leben in einer Bretterbude anfühlt. Seitdem ist uns noch viel klarer, dass der wahre Luxus nicht darin besteht, teure Autos zu fahren, Designermode zu tragen und grosse Villen zu bauen. Für uns besteht Luxus aus Sicherheit, Freiheit und Ruhe. All das bietet die Schweiz immer noch wie kaum ein anderes Land. Ich glaube, wir kommen zurück. Dann, wenn wir zu den eigenen Schwächen gereist sein werden. Dann, wenn wir unser eigenes Unvermögen genau ermessen haben werden.

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