Nächte im Zug

Eine Nacht im Schlafwagen-Abteil mit wildfremden Menschen ist auch eine Option. Die Begegnungen mit den Mitreisenden sind dabei viel intimer als in der grossen Kabine eines Flugzeugs oder eines Busses – ob man will oder nicht.

Wir haben es uns gerade in unseren Betten gemütlich gemacht, da betritt ein grosser, tätowierter, dicker Mann polternd den Wagen. «Big falang, big bag!» sagt er, laut lachend. Im Nachtzug von Vientiane nach Bangkok (620km, 10h) sind die Betten in zwei langen Reihen angeordnet, an den Wänden des Wagens. Immer zwei übereinander. Es gibt Vorhänge, mit denen Privatsphäre angedeutet wird. Der Dicke liegt ins Bett neben Moni, ich bin vis-à-vis. Zwischen uns der Durchgang. Sofort fragt er uns, woher wir seien, wohin wir gingen. Er sei aus Dänemark. Wir sehen in ihm den Typ Westler um die 50, der nach Thailand kommt, um sich eine Frau zu holen, und sind entsprechend wortkarg. Die Italiener nebenan reden mehr und so erfahren wir, dass der Mann nach Kambodscha will, weil es da noch so sei wie früher in Thailand. Das sagt er mit einem dreckigen Lachen und mit einem komischen Akzent: «You know what I mean». Der Typ stinkt nach Zigis und hat offensichtlich schon einiges getrunken. Wir flüchten in den Speisewagen.

Als wir zurückkommen, schlafen alle. Zumindest sieht es so aus. Wir legen uns hin, die Räder rattern beruhigend, die dunkle Landschaft zieht vorbei. Doch schon bald schauen wir uns irritiert um: Der dicke Mann brabbelt vor sich hin. Ununterbrochenes «Fuck me hard!», «Suck me passionatly!» und noch weitere Offenbarungen müssen sich alle Reisenden im Wagen anhören. Dann entschuldigt er sich «Sorry, I know I talk». Kurz darauf: «All Russians, all Ukrainians: out!». Es klingt alles wirr, der Typ wirkt psychisch angeschlagen. Wir können nicht anders, als uns vorzustellen, was die jungen Kambodschanerinnen erwartet, die ihm begegnen werden. Als wir sicher sind, dass er nur redet und nichts tut, stülpen wir uns die Kopfhörer über und schlafen ein. Am nächsten Morgen ist der Mann rasch verschwunden.

Im Nachtzug von Hué nach Hanoi (650km, 12h) teilen wir das Sechser-Abteil mit einem netten vietnamesischen Geschäftsmann und einem weiteren Herren, der eine Styroporkiste mit sich herumträgt. Sie muss etwas Wertvolles enthalten, denn er behandelt sie äusserst sorgfältig. Die beiden Männer steigen in den obersten Stock, wir sind unten. Neben uns ihre stinkenden Kunstlederschuhe. Die Reisfelder ziehen vorbei, die Sonne geht dramatisch unter, die Farben sind spektakulär. Dann legen wir uns hin, die Räder rattern beruhigend.

Irgendwann um Mitternacht hält der Zug an und eine Frau klettert ins Bett über mir. Das weckt mich. Als sie sich eingerichtet hat, wird es wieder still – fast. Ein leises, quietschendes Kratzen ertönt in unregelmässigen Abständen, es ist kaum zum Aushalten. Wie früher in der Schule, als wir mit Fingernägeln der Wandtafel entlangfuhren, um die anderen zu nerven. Zuerst denke ich, es sei die Tür, die wegen den Bewegungen des Zuges quietscht. Ich gehe aufs Klo und schliesse die Tür sorgfältig. Das Quietschen hört nicht auf. Schliesslich erinnere ich mich an die Styroporkiste: Da muss ein Tier drin sein. Hoffentlich ist es keine Schlange, die sich schon bald befreit… Kopfhörer und Musik helfen auch hier.

Morgens um vier werden wir unsanft geweckt: Der Geschäftsmann macht Licht, wühlt in seinen Sachen, weckt die Frau, diskutiert laut mit ihr, holt den Schaffner, diskutiert noch lauter mit ihm. Schliesslich stehen sechs Personen in und um unser Abteil und reden aufeinander ein. Wir verstehen nichts, doch schliessen aus den lebhaften Gesten, dass dem Geschäftsmann wohl etwas abhanden gekommen ist. Er füllt Formulare aus. Es wird wieder ruhig. Ich frage den anderen Herren, der vom Rauchen zurückkommt, was er in der Styroporkiste transportiere. Es sei eine Krabbe, erklärt er uns mit einem verschmitzten Lächeln – die Vietnamesen töten ihr Essen am liebsten möglichst kurz vor Verzehr.

Heute Morgen sind wir in Nanning, China, angekommen. Mit dem Nachtzug von Hanoi (420km, 11h). Ein bequemes Viererabteil für uns alleine, ausgestattet wie beim Grosi: Teppichboden, bestickte, crèmefarbene Vorhänge und Tischtücher, dicke Decken und zwei Kissen pro Person. Wir fühlten uns sofort wohl und schliefen bald nach der Abfahrt ein.

Die Grenze erreichten wir um 2 Uhr in der Früh. Der Schaffner klopfte laut und bestimmt an unsere Abteiltüre. Wir reimten zusammen, dass wir wohl aussteigen müssen mit dem ganzen Gepäck. Passkontrolle. Alle Passagiere wankten schlaftrunken in eine grosse Halle. Pässe abgeben. Und dann warten, bis der Name aufgerufen und der Pass ausgehändigt wird, von den Vietnamesen abgestempelt.  Eine Stunde verging, dann retour in den Zug, weiterschlafen. Nach rund einer Stunde dasselbe Prozedere bei den Chinesen. Hier jedoch noch mit zusätzlichem Taschendurchwühlen. Sogar an Babymilchpulver wurde geschnüffelt. Aber reingelassen haben sie uns alle. Morgen geht’s weiter nach Shanghai – diesmal bei Tageslicht, im Hochgeschwindigkeitszug (1’800km, 12h).

All das planten wir mit der wertvollen Hilfe des Mannes in Sitz 61 – der weiss wirklich alles übers Zugfahren in fernen Ländern. Danke, Mann!

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