In Ecuador ist Wahlkampf. Unzählige Listen buhlen mit unglaublichen Versprechen um die Gunst der Leute. Wir versuchen zu schlafen, weil der Bus um halb sechs geht.
Wir treffen ihn, als wir einen Geldautomaten suchen. Er kommt lächelnd auf uns zu und kommt uns irgendwie bekannt vor. Bei der Begrüssung mit Handschlag stellt er sich als Luis Valencia vor. Auch wir verraten unsere Namen, etwas verunsichert. Schnell merken wir, dass er uns nichts verkaufen will. Er ist interessiert an uns, stellt viele Fragen. Unter anderem will er wissen: «Wie gefällt es euch hier in San Lorenzo?»
Wir schauen uns um und merken dabei, woher wir ihn kennen: Sein Foto prangt auf all den Wahlplakaten, die hier hängen. Luis grinst und erklärt leicht verlegen, er könne sich keine Kampagne im Fernsehen leisten wie die grossen Parteien. Aber er wolle Bürgermeister werden. Sein Rezept: «Ich gehe zu den Leuten und rede mit ihnen. Wollt ihr mitkommen in ein Aussenquartier?» Falls Luis Bürgermeister wird, will er Waffen verbieten, die Korruption bekämpfen und den einfachen Leuten helfen. Er ist einer von ihnen. Genau darum wird er die Wahl wohl nicht gewinnen.
Nachdem er uns verspricht, dass er immer für uns da sei, steigt er in ein Auto und braust davon. Wir finden den Automaten. Es kommt Geld heraus. Mit dem Geld gehen wir zum Markt. Auf einem ungeteerten, staubigen Platz stehen Stände unter Sonnenschirmen und Plastikplanen. Schwarz Frauen und Männer verkaufen Blumen, Gemüse, Früchte, Süssigkeiten, rohes Fleisch, gepökelte Fische, frittiertes Huhn und Eisenwaren. Es riecht nach all diesen Dingen gleichzeitig. Hunde schleichen umher, Leute feilschen, Jugendliche schieben quietschende Schubkarren vorbei, Musik dröhnt dumpf. Es ist heiss und feucht. Wir sind in den Mangrovenwäldern an der Pazifikküste im Norden von Ecuador, in einer Stadt, die erst seit kurzem von einer Strasse erschlossen ist: San Lorenzo. Fast ausschliesslich Afro-Ecuatorianer leben hier.
Mit unseren Früchten flüchten wir auf die Verkehrsinsel der Hauptstrasse. Es gibt ein wenig Grün da und einige Parkbänke. Wir setzen uns und schneiden Mangos auf. Von hinten kommt eine scheppernde Stimme immer näher. Sie fordert einem in höllischem Tempo dazu auf, doch bitte die frischen, günstigen Trauben zu probieren. Zu nur drei Dollar das Kilo. Die Stimme kommt aus einem riesigen Lautsprecher, der auf dem Dach eines Pickups befestigt ist. Die Ladefläche ist voller Trauben. Eine Frau sitzt oben und kassiert. Langsam fährt sie vorbei. Die Stimme redet ununterbrochen. Ein paar Jugendliche auf Mofas brausen heran und reissen im vorbeifahren Trauben von der Ladefläche. Die Frau schreit und gestikuliert.
Irgendwann finden wir das einzige Café in San Lorenzo. Der Cappuccino ist lecker, der Kellner freundlich. Wir sitzen vor seinem Lokal und schauen den Leuten zu. Genau so gut könnten wir in Afrika sein. Einziger Unterschied: Sie sprechen Spanisch hier. Und sie müssen alle irgendwo hin. Der Wirt hat neun Jahre in Italien gearbeitet, bis die Euro-Krise kam, nun ist er hier. Erst hat er sich als Taxifahrer versucht, aber das war ihm zu gefährlich. Darum jetzt das Café, seit drei Monaten. Es läuft noch nicht so gut, weil die Leute hier keine Kaffeekultur kennen und ihren «Tinto» fast durchsichtig trinken. Wir sind die einzigen Touristen in der Stadt.
Der Wirt sagt, er gehe spätestens um acht Uhr heim. Danach sei es zu gefährlich. Also machen wir uns auf den Rückweg zum Hotel, obwohl wir bis jetzt nur freundlichen Menschen begegnet sind. Auf den dunkeln, leeren Strassen fühlen wir uns unsicher. Im Hotel versuchen wir zu schlafen – morgen geht der Bus schon um halb sechs. Die laute Musik vom Hof unten wird sicher bald aufhören, hoffen wir. Dösen vor uns hin, wälzen uns. Doch Reggaeton geht direkt in den Magen, Ohrstöpsel nützen nichts.
Als wir endlich einschlafen, klingelt auch schon der Wecker. Wir duschen, packen unsere Sachen und stolpern die Treppe runter. Die Musik ist immer noch da. Vor dem Eingang steht ein schicker neuer Sportwagen, alle Türen sind geöffnet, die Musikanlage voll aufgedreht. Aha, denken wir. Der Nachtportier sitzt mit einem Latino-Gangster-Typen (Tatoos im Gesicht, breite Klamotten, Kopftuch) vor dem Wagen, der sicher nicht mit sauberem Geld bezahlt wurde. Beide sind total verladen. Wir knallen den Schlüssel auf die Theke und stapfen wortlos davon, zum Busbahnhof.