Zehn Tage nicht kommunizieren, keine Musik, kein Schreibzeug, keine Elektronik, kein Sport, keine Zigaretten: Diese Vorgaben hatten zu keinem Zeitpunkt nach Partyferien geklungen. Wie schmerzhaft es dann wirklich werden würde, hatte ich mir nicht vorstellen können.
Neugierig betrete ich den grossen Meditationssaal. Links sitzen die Männer und, getrennt durch einen breiten Durchgang, rechts die Frauen. Vorne eine altarmässige Einrichtung für unsere Lehrerin. Alle rund 50 Meditationswilligen haben ihren zugewiesenen Platz, ihr eigenes Kissen. Was wird jetzt passieren? Ich sitze und warte. Ich sitze und denke. Wahrscheinlich viel zu viel Unnötiges. Ich soll ruhig sitzen, die Augen geschlossen halten, mich nicht bewegen, den eigenen, natürlichen Atem beobachten.
Was jetzt, ruhig sitzen und Atem beobachten?! Es ist zuerst einmal viel zu warm und stickig in diesem Raum. Und warum so viele ständig ihren Schnudder hochziehen müssen, verstehe ich nicht. Es nervt einfach. Auch das Husten. Und ich finde, einige wären doch besser zuerst noch duschen gegangen. Aber: nicht ablenken lassen, bei mir bleiben, ruhig sitzen, Augen geschlossen halten, Atem beobachten. Einatmen, Ausatmen – wie war das nun wieder letzte Woche… äh nein, eben, mein Atem, ein und aus, aus und ein. Das ist viel zu wenig spannend, um mich vom Denken abzuhalten. Ich versuche es immer und immer wieder. Zeit habe ich ja genug. Das so was Einfaches nicht gelingt, ist frustrierend.
Draussen gibt es einen Garten, wo man sich aufhalten und eine Runde spazieren kann. Eine sehr kleine Runde. Einige Frauen trampeln hintereinander her. Ich kann mich nicht überwinden. Es sieht aus wie ein Spazierhof für Gefangene. Und all die Leute, mit denen ich kein Wort wechsle, ja nicht mal Blickkontakt habe, kommen mir plötzlich vor wie Gespenster, die ferngesteuert in super Slowmotion ihre immer gleichen Bewegungen ausführen. Es scheint mir alles ziemlich absurd. Und ich tue mir das freiwillig an?
Zwei Tage habe ich nun nicht mehr geraucht. Und vor allem habe ich nicht mal daran gedacht. Nach meinem hochdramatischen Rauchstopp-Versuch von letztem Sommer war das Aufhören eine grosse Sorge für mich. Umso besser, dass dies bis jetzt kein Problem zu sein scheint. Ich freue mich darüber.
Ich versuche, ruhig zu sitzen, mich auf meinen Atem zu konzentrieren. Es gelingt irgendwie noch schlechter als am Vortag. Eine halbe Stunde schaffe ich knapp. Dann fangen die Beine an zu schmerzen. Sie schlafen ein. Kann das gesund sein? Was hole ich mir hier für bleibende Schäden? Eine Stunde müsste längst um sein. Ich blinzle. Alle andern vor mir sitzen stoisch. Keine Bewegung. Haben die denn keine Schmerzen? Mein Rücken tut weh, mein Kopf hämmert ständig. Mein Geist schweift hin und her zwischen der bewussten Wahrnehmung der Schmerzen und vielen andern Gedanken. Meditation ist wohl nichts für mich. Wahrscheinlich gibt es Menschen, die dafür einfach nicht gemacht sind.
Ariel sehe ich immer nur von Weitem. Wie es ihm wohl geht? Es muss schlimm sein für ihn, sich nicht bewegen zu können. Und dann sitzt er auch noch zwischen dem Stinker und dem Extrem-Nasenrotzer. Ich hätte schon längst den Platz gewechselt. Wie er das nur macht?
Nach dem Mittagessen nähere ich mich ihm verbotenerweise. Ich verdrehe die Augen, sage, dass ich es ganz schrecklich finde, dass ich Rückenschmerzen und Migräne habe. Dass dies hier doch alles ziemlich absurd sei. Und mich in Gleichgültigkeit zu üben, wie das der Philosophie entspricht, ist für mich nicht wirklich erstrebenswert. Ich will Leben. Ich will Gefühle zulassen, spüren und zeigen können. Ich will heulen und mich freuen. Ich will nicht erleuchtet werden und meditierend mein Leben gleichgültig hinnehmen. Wahrscheinlich hatte ich mir erhofft, dass er auch ähnlich denkt. Nur, von ihm höre ich nur Positives. Und seine beiden Nachbarn, nun, das sei jetzt halt eben eine Prüfung. Eine Prüfung!? Was ist denn hier passiert? Mein Ariel klingt wie eine Kirchenmaus nach Gehirnwäsche. Es macht mir beinahe Angst.
Ich realisiere erst sehr viel später, was ich mit dem Bruch des “noblen Schweigens” angerichtet habe. Natürlich habe ich Ariel in seiner Konzentration gestört. Natürlich fragt er sich jetzt, warum es mir nicht gut geht. Ich hätte nichts sagen sollen. Ich fühle mich wie ein kleines, trotzendes Kind, das Aufmerksamkeit sucht. Ich schäme mich.
Ich schäme mich nicht nur deswegen. Ich kann einfach nicht ruhig sitzen. Neben Kopf-, Rücken- und Beinschmerzen habe ich nun auch noch Magenbrennen. Da kann dieser Guru noch lange sagen und singsängerlen, dass alles temporär sei, alles vorbeigehe. Das kann ja schon sein. Nur, ich sehe nicht ein, weshalb ich mir das antun soll. Alle andern sitzen ruhig. Ausnahmslos alle, ausser mir.
Mit jedem weiteren Tag kommen neue Schritte in der Vipassana Meditationstechnik dazu. Wir sollen nach den äusserlichen Wahrnehmungen nun auch alles innerhalb des eigenen Körpers ins Bewusstsein rufen. Ein Total-Scan quasi. Das ist interessant. Und lenkt ab von Schmerzen. Es ist, als ob ich mich ganz anders spüren würde, als ob es Stellen an und in mir gäbe, die ich noch gar nicht kannte. Es ist tatsächlich so, dass ich zeitweilen sehr ruhig werde, dass ich mich leicht und befreit fühle. Vielleicht hat Vipassana doch eine reinigende Wirkung auf meinen Geist. Bis wieder alles weh tut.
Ich werde krank. Am siebten Tag schüttelt es mich. Ich habe kalt. Danach wieder heiss. Ich bin schwach und müde. Es ist mir schwindlig. Ich kann nicht aufstehen, möchte schlafen und schaffe es doch nicht. Aber Fieber habe ich keines. Ich weine. Weil ich nicht rauche? Nein, ich habe überhaupt keine Lust und kein Verlagen. Ich habe keine Ahnung was mit mir los ist.
Am nächsten Tag geht es besser. Es schüttelt mich nur noch einmal. Ich bin wieder etwas wacher und kann mich erstaunlich gut konzentrieren. Die Schmerzen sind mir egal. Ich weiss, ich muss noch drei Tage durchhalten. Drei lächerliche Tage.
Der elfte Tag kommt. Es hängt ein Plan vor dem Eingang: Morgenmeditation um 4.30 Uhr, Frühstück um 06.30 Uhr, Packen und Putzen. Um 10.30 Uhr sitzen wir im Bus Richtung Kyoto. Endlich. Ich hatte so sehr auf diesen Moment gewartet. Rings um mich herum sind lauter fröhliche Gesichter, einige haben diese selige Lächeln, das mir meist sehr suspekt ist.
Ich bin weniger glücklich und unruhiger als vor dem Meditationsseminar. Abzureisen fühlt sich an wie eine Freilassung. Es war ein schmerzhaftes Gefängnis für mich. Ob es irgendwelche Auswirkungen haben wird?
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