Der Reisende wird unweigerlich berührt von der politischen Situation vor Ort: Proteste, Unterdrückung, Armut, Ausbeutung, Umweltverschmutzung sind oft unübersehbar. Wie stark er sich damit auseinandersetzt, hängt von ihm selber ab. Er kann sie ignorieren oder nach Antworten suchen. Denn setzt er nicht bereits mit der eigenen Anwesenheit ein politisches Statement und unterstützt die möglicherweise korrupte Landesregierung?
Etwas vom Schönsten am Reisen ist, dass ich dabei ganz viel Neues kennenlerne. Neue Länder, neue Kulturen, neue Leute und vor allem: neue Möglichkeiten. Neue Möglichkeiten, die Welt zu sehen, sein Leben zu gestalten, seiner Arbeit nachzugehen, zu denken oder auch nicht zu denken.
Je eingehender ich mich jeweils mit der lokalen politischen Situation befasse, desto mehr fällt mir auf, wie ungleichmässig diese Möglichkeiten auf der Welt verteilt sind: Wo die Menschen viele davon haben, ist die Politik eher demokratisch organisiert, so dass alle partizipieren können und dieselben Rechte geniessen. Wo hingegen Machtkonzentration und Korruption herrschen, haben die Menschen wenig Möglichkeiten, wenig Rechte. Das klingt banaler als es nach längerer Auseinandersetzung und hautnahem Erleben tatsächlich ist.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto auffälliger erscheinen die Zusammenhänge. Globalisierung wird dabei vom eher abstrakten Begriff je länger je mehr zur fassbaren Realität. Zum Beispiel dann, wenn ich sehe, unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmass in Borneo Palmöl angebaut wird, unter anderem weil die EU einen Mindestanteil Biotriebstoff vorschreibt. Dass dabei wertvoller und einzigartiger Urwald abgeholzt wird, Menschenrechte verletzt werden und Tiere ihre Lebensraum verlieren, ist nur möglich, weil einige wenige zu viel Macht haben und schamlos Profit daraus schlagen. Genauso in Kolumbien, wo unter für Mensch und Natur unwürdigsten Bedingungen Kohle abgebaut wird – nur möglich, weil die ausländischen Förderfirmen (auch Glencore) hier keine Umweltauflagen einhalten, den Arbeitern keine Rechte einräumen und allfällig aufkommende Streiks gleich von der Armee niederschlagen lassen.
Ich erlebe Politik und Ihre Auswirkungen unterwegs hautnahe – und empfinde meine Reisen in diesem Sinne oft als sehr politisch.
Schon oft haben wir uns gefragt, wie sehr wir die Regimes der von uns bereisten Länder – Kambodscha, Nicaragua, Myanmar, um nur die Schlimmsten zu nennen – unterstützen? Nur schon durch unsere Anwesenheit billigen wir vermutlich einiges. Dies zu vermeiden ist unmöglich, wenn man ein Land besucht. Auf der anderen Seite übernachten wir dann bei Familien, kaufen auf dem Markt ein, fahren mit den lokalen (meist nicht staatlichen) Verkehrsmitteln und sehen, dass unser Geld so auch denjenigen zugute kommt, die es wirklich brauchen. Und sich freuen, wenn jemand Interesse zeigt für ihre Situation.
Die meisten dieser Leute haben keine Möglichkeiten, sind gebunden an ihr Land und ihre Lebensweise, kennen nichts anderes. Zum Beispiel die Familie im peruanischen Amazonas, die früher unter gefährlichsten Bedingungen Kokain anbaute, heute Touristen beherbergt und Dschungeltouren anbietet. Oder all die Menschen, die von Eric’s Guesthouse in Myanmar abhängig sind, mit dem er eine Schule für Waisenkinder unterstützt. Wo wären sie ohne Tourismus?
Wir begegnen immer auch Menschen, die nicht dem Durschnittsbürger des jeweiligen Landes entsprechen. Oft sind es finanziell privilegierte Personen, welche die Welt bereisen konnten, vielleicht im Ausland studiert haben, differenzierte Betrachtungsweisen äussern und oft auch ähnliche Ansichten vertreten wie wir. Sie wissen die Vor- und Nachteile ihres Landes zu schätzen, sie kennen die Möglichkeiten. Zum Beispiel Carlos aus Mexiko, der für die Schweiz schwärmt, die er dank regelmässigen Besuchen bei seinem Schweizer Studienfreund gut kennt, selber gerne wie die Schweizer etwas anpacken will und jetzt eine von Mexikos besten Mezcal-Brennereien betreibt. Oder Xiu-Xiu aus Shanghai, die als Einzelkind die Teeplantage ihres Vaters geerbt hat, sich wirtschaftlich verwirklicht und daneben auch für ihren persönlichen Ausgleich einen sehr eigenen Weg geht. Gerne unterhalte ich mich mit ihnen, weil sie wissen, dass wir Menschen trotz unterschiedlicher Herkunft und Kultur viel mehr Gemeinsames, Verbindendes haben. Und plötzlich wird die Welt ganz klein, man versteht sich, alles ist klar. Vielleicht nur für einen kurzen Moment, doch für diese Momente lebe ich. Und kann darum nicht verstehen, warum man Mauern bauen will, sich abschottet von der Welt, Angst vor Fremdem schürt. Es gibt kaum Bereicherndes als andere Leute zu treffen, aus der gewohnten Umgebung auszubrechen und neue Möglichkeiten kennenzulernen.
Bücher zum Thema:
- Warum Nationen scheitern von Daron Acemoglu und James Robinson, über arme und reiche Staaten.
- Between The World And Me von Ta-Nehisi Coates, über das Leben in einem schwarzen Körper.
- Cambodia’s Curse von Joel Brinkman, über Korruption und Entwicklungshilfe in Kambodscha.
- Capital von Rana Desgupta, über Geld und Macht in New Delhi.