Am Anfang stand der Traum, zwei Jahre um die Welt zu ziehen. Seit einem Jahr ist das Reisen nun mein Leben. Wie hat es sich verändert und was hat es mit mir gemacht?
«Normal ist das ja nicht, was ihr da vorhabt», haben mir meine Eltern im Vorfeld gesagt. Es hat lange gedauert, bis sie unseren Wunsch, für diese lange Zeit zu verreisen, wirklich akzeptieren und nachvollziehen konnten. «Du wolltest ja noch nie normal sein», meinte mein Vater schliesslich und schien sich am Ende sogar für uns zu freuen. Meine Eltern waren nicht die einzigen, die nicht auf Anhieb enthusiastisch reagiert haben. Drei Monate oder ein halbes Jahr hätte man vielleicht noch nachvollziehen können, aber gleich zwei Jahre!? So lange weg vom Job. Was ist mit einer Karriere? Mehr oder weniger explizit auch Fragen zu unserer Familienplanung – schliesslich sind wir schon jetzt einigermassen alt. Und dann wirklich zwei Jahre lang aus dem Koffer leben? Zwei Jahre lang ständig zu zweit unterwegs sein? Kann das eine Beziehung überstehen?
Natürlich hatten wir uns alle diese Gedanken auch gemacht. Wir hatten viele Bedenken. Und ehrlich gesagt, hatten wir auch nicht alle ausgeräumt, als wir losgezogen sind. Doch die Liste der für uns positiven Aspekte hat überwogen, so dass wir uns entschieden haben, das Abenteuer zu wagen. Würde ich mich heute wieder gleich entscheiden? Nach einem Jahr unterwegs sind wir erst in der Halbzeit, aber ich muss nicht lange überlegen: Ja, ich würde mich auch heute wieder für die grosse Welt entscheiden. Denn Reisen bedeutet mir viel und hat noch mehr mit mir gemacht.
Ich bin kreativ, weil ich nicht unglücklich sein kann.
Diese Reise war schon lange ein Traum, den wir uns nun erfüllen. Obwohl die Erwartungen nicht konkret sein konnten, so waren und sind sie noch immer hoch. Ich habe das Gefühl, dass wenn ich mir meinen Traum erfülle, dann muss ich glücklich sein. Es scheint ja auch sehr einfach: ein Leben auf Reisen bedeutet ständig auf neue Orte, Menschen und Kulturen zu treffen. Es heisst auch, keine To-Do-Liste zu haben, keine Deadlines, keine dringenden Projekte, keine unliebsamen Aufgaben, die man aufgebrummt bekommt. Aber wenn etwas schiefläuft, gibt es leider oft kaum andere als mich selber zu beschuldigen. Für alles was ich tue oder unterlasse bin ich unterwegs gefühlt noch stärker verantwortlich. Alles ist freiwillig. Und es besteht die Gefahr, dass eine gewisse Müdigkeit oder gar Langeweile aufkommt. Es gibt auch unterwegs, meinen Traum lebend, Momente, in denen ich nicht glücklich bin. Und ich habe noch weniger als sonst das Gefühl, eine Berechtigung dafür zu haben. Reisen heisst für mich, ich erlaube mir nicht unglücklich zu sein. Das führt dazu, dass ich oftmals sehr kreativ darin bin, mir neue Aufgaben zu geben und Inspiration zu finden. Es sind häufig die kleinen Dinge, die – schenkt man ihnen erst einmal Aufmerksamkeit – sich als besonders wertvoll entpuppen. Oft bin ich besonders glücklich, wenn ich aus einem scheinbaren Nichts etwas Wundervolles improvisieren kann.
Ich improvisiere, weil ich nie alles kenne.
Improvisation begleitet mich seit einem Jahr täglich. Wir planen wenig, was uns viele Türen öffnet, aber mich eben auch mit Situationen konfrontiert, denen ich im ersten Moment manchmal fast hilflos gegenüberstehe. Viel Zeit um abzuwägen, mir die adäquaten Reaktionen wohl zu überlegen oder Gedanken zu möglichen Vor- und Nachteilen zu machen, bleibt oftmals nicht. Schnelle und kreative Lösungen sind gefragt auf Reisen, und ich bin gezwungen zu improvisieren. Wer mich kennt, weiss, Improvisation war nie meine Stärke, viel zu gerne mache ich Dinge perfekt. Unterwegs zu sein, so wie wir es sind, lehrt mich immer wieder aufs Neue, wie schön und richtig sich Imperfektes und Improvisiertes anfühlen kann. Ich bin dankbar für diese Erfahrungen, lerne dazu, mich selber und Ariel und uns als Paar immer noch besser kennen. Nach einem Jahr unterwegs habe ich die Zuversicht, dass wir so ziemlich alles anpacken können.
Wir sind bereit für alles und alles andere.
Unser Abenteuer bringt doch auch einige Herausforderungen mit sich, die wir als Paar zu meistern haben. Wir sehen quasi 24 Stunden dasselbe Gesicht, schlafen jede Nacht im selben Bett. Fast immer sind wir auch unsere einzigen Freunde vor Ort. Wir sind zur gleichen Zeit mit denselben Herausforderungen und Fragen konfrontiert und bekommen jede Laune des andern unmittelbar mit. Alle Entscheidungen, die wir treffen müssen, betreffen uns beide. Es wäre oft einfacher, wenn etwas mehr Raum wäre, wenn jeder noch seine Arbeit und Arbeitskollegen hätte. Es wäre oft schön, wenn wir unseren Hobbies leichter separat nachgehen könnten, wenn wir die Möglichkeit hätten, unsere Freunde zu sehen und mit andern Themen beschäftigt wären als nur mit den unsrigen. Vielleicht hege ich auch manchmal den Wunsch nach den kleinen Ausfluchtsmöglichkeiten, die wir im Alltag Zuhause hatten. Nicht immer und alles diskutieren zu müssen, sondern Problemchen einfach mal sein zu lassen. Häufig haben wir aber auch den Wunsch nach etwas (mehr) Privatsphäre. Angesichts der Tatsache, dass wir immer zu zweit sind mag das komisch klingen. Aber die wohl grösste Herausforderung als Paar besteht aus meiner Sicht darin, interessant und attraktiv füreinander zu bleiben. Unsere einzigartige Beziehung nicht einfach als selbstverständlich zu betrachten, das Spezielle im andern zu sehen und nicht symbiotisch zu werden. Denn bei aller Eingespieltheit, die sich ergibt, schätzen wir es doch sehr, zwei Individuen zu sein.
Ich bin unabhängig, smart und aktiv.
Lange unterwegs zu sein verleiht nicht nur das Gefühl von Unabhängigkeit, ich glaube, die Fähigkeit unabhängig sein zu können, ist eine Voraussetzung für längere Reisen. Denn unterwegs sein heisst oft, sich nur auf sich verlassen und nur sich selber vertrauen zu können. Reisen schliesst auch jeglichen Phlegmatismus aus, man muss aktiv sein um vorwärts zu kommen. Vielleicht ist die Freude daran ebenfalls eine Voraussetzung, vielleicht sogar ein Charakterzug, den allen Reisefreudigen gemein ist. Wer reisen will, muss organisiert und smart sein. Letzteres hat vermutlich wenig mit Bildung zu tun, doch ohne einiges an Wissen und viel gesunden Menschenverstand würde ich nicht weit kommen. Wobei gerade die sich mir oftmals unzureichend erschliessende kulturelle Komponente das Lesen von Menschen erschwert. Noch stärker habe ich ein Gefühl dafür entwickelt, wem ich vertrauen kann, wer welche Absichten haben mag.
Ich erweitere meine Kommunikationsfähigkeiten.
Um in der Landessprache mit den Einheimischen kommunizieren zu können, hätte ich alleine im letzten Jahr zwölf verschiedene Sprachen beherrschen müssen. Über den Minimalwortschatz hinaus bin ich aber selten gekommen. Natürlich sprechen weltweit sehr viele Menschen Englisch, aber eben längst nicht überall. Wie schön ist es dann, wenn man Mittel und Wege findet, sich zu verständigen. Wie herzerwärmend kann es sein, die ehrlichen Bemühungen seines Gegenübers zu betrachten, die es braucht, um eine Kommunikation entstehen zu lassen. Wie oft habe ich gelacht, als ich realisiert habe, dass vermeintlich weltweit einheitliche Symbole, Zeichen oder Ausrufe kulturell frappant unterschiedliche Bedeutungen haben können. Reisen heisst immer wieder zu realisieren, wie divergierend Erwartung und Realität sein können.
Ich räume auf mit Vorurteilen.
Ich mag es sehr, wenn ich mich forciere, damit sich negative Vorurteile widerlegen können. Bestätigen sie sich doch, dann akzeptiere ich sie. Ansonsten ist es eine positive Überraschung, die mich mit jedem Mal auch ein wenig vorsichtiger werden lässt, ein wenig im raschen Urteil entschleunigt. Unterwegs werde ich sehr häufig positiv überrascht und revidiere meine Kriterien ständig. Das kann bisweilen auch recht anstrengend sein, nimmt es mir doch immer wieder etwas von der Sicherheit und schnelleren Orientierungsmöglichkeit, die (Vor-)Urteile mit sich bringen. Aber längerfristig betrachtet sind es vermutlich genau diese wertvollen Erfahrungen, die mir am meisten Halt wie auch Offenheit schenken.
Ich probiere Neues.
Genau so wie aktiv und unabhängig sein zu können, ist die Neugier auf Neues eine Voraussetzung fürs Reiseleben. Es ist oft unbequem, sich aus der gerade bekannt und dadurch schon beinahe bequem gewordenen Umgebung zu entfernen. Weiter in unbekannte Gefielde. So anstrengend es auch sein mag, so viel bekomme ich zurück von all den neuen Menschen und Orten. Je mehr Schönes ich bei, mit und an Neuem erlebe, umso grösser wird meine Lust und Neugier. Sollte ich einmal kein Interesse mehr daran haben, Neues zu probieren, dann würde ich nicht mehr unterwegs sein wollen. Doch dies scheint mir heute recht unwahrscheinlich.
Wir haben das Reisefieber. Dauerhaft.
Reisemüde sind wir beide noch nicht. Klar, wir wünschen uns oft unsere liebsten Menschen in die Nähe, vermissen Annehmlichkeiten von Zuhause, sind manchmal erschöpft und enttäuscht, wenn wieder mal etwas nicht klappt, aber noch nicht soweit, dass wir keine Freude mehr haben am Unterwegssein. Wir haben das Reisefieber, das vermutlich nicht eine heilbare Krankheit ist, sondern eine genetische Disposition. Also dauerhaft und unverschuldet.