House Sitting im Haus des Grauens, zusammen mit meinem Bruder und dessen Frau. Oder wie ich die Berufs-Ferienmacher Monika und Ariel erlebte.
Es ist der 20. Juli 2016 und die doppelten Plexiglasscheiben der Reihe von Flugzeugfenstern ist trüb. Genüsslich strecke ich nochmals die Beine. Ich kriegte ein Upgrade: In der Economy hatte es keinen Platz mehr, und nun fliege ich Business. Ich nippe an meinem Whisky und versuche so zu tun, als sei das normal, als gehörte ich hier hin. Durch die Fenster sehe ich weit unten das Meer, darauf zwei weisse Punkte, die weisse Linien nach sich ziehen. Motorboote. Wir nähern uns der Küste. Bald werde ich Ariel und Moni zum ersten Mal seit dem 15. Januar 2015 wiedersehen. Wie es ihnen wohl geht? Ob und wie stark sie sich verändert haben? Wir beginnen mit dem Landeanflug. Ich sehe immer noch nichts ausser Meer durch die Fenster. Das Wasser kommt immer näher, und ich habe kurz das Gefühl, dass wir ins Meer stürzen werden. Im letzten Moment schmeisst sich fester Boden unter unsere Maschine. Die Landebahn. Wir setzen sicher im Logan International Airport in Boston auf.
Ich gelange ohne Probleme durch den Zoll. Freundlich sind sie nicht, diese Zollbeamten, stellen seltsame Fragen, die einen aus dem Konzept bringen sollen und es auch tun. Obwohl ich ja eigentlich weiss, dass ich nichts zu verbergen habe, bin ich erleichtert als mich die Zöllnerin einreisen lässt. Ich habe irgendwie das Gefühl, nochmals davongekommen zu sein. Am Ausgang warten bereits mein Bruder und Moni.
Irgendwie packen wir meine Sachen in das bereits überladene Auto und dann geht es auch schon los, durch den Stau in Richtung Cape Cod. Moni und Ariel sind gut organisiert, sie haben eine Reservation auf einem Campingplatz, zuvor schon ein Zelt besorgt für mich und haben Pläne für den nächsten Tag. Nach einem gesunden Abendessen (Brot, Hummus, Gemüse, Käse, Bier) schlafe ich die erste vieler Nächte in meinem 30 Dollar Walmart-Zelt.
Am nächsten Tag mieten wir Velos („mal Velos, die nicht schrottreif sind“, meint Moni) und fahren die Strecke einer alten Eisenbahnlinie entlang. Dies scheint eine beliebte Ferienaktivität zu sein, viele andere Radler sind unterwegs. Es ist heiss, aber der Radweg verläuft grösstenteils unter Bäumen und es ist schattig, zudem kühlt der Fahrtwind. Am nächsten Tag geht es Richtung New Jersey, wo Ariel und Moni ein Haus (und eine Katze) hüten, während die Besitzer in den Ferien sind. Zuvor jedoch eine weitere vorreservierte Nacht auf einem Campingplatz, auf dem Heimweh-Puerto-Ricaner laut Salsa hören und südamerikanische Erinnerungen aufleben lassen.
Moni und Ariel freuen sich auf ein Zuhause. Aus dem, was sie mir erzählen, schliesse ich, dass dies der schwierigste Teil des Reisens ist: die Entwurzelung, das ewige Aus-dem-Koffer-Leben. Wenn man nur zwei Wochen weg ist, oder auch einen Monat oder sogar zwei, kommt dies noch nicht so stark zum Tragen. Aber nach anderthalb Jahren kann ich mir gut vorstellen, dass diese quasi-Heimatlosigkeit anstrengend wird. Da werden die vereinzelten Inseln der temporären Sesshaftigkeit geschätzt. Es sind ja nicht nur die eigenen vier Wände, die man beim Reisen hinter sich lässt; es sind auch andere Dinge, vor allem Dinge, die einem zurück in der Schweiz zeitweise kleinkariert vorkommen mögen, aber die trotzdem Sicherheit geben: Rituale, Routine, Alltag. Auf das, scheint mir, haben sich die beiden gefreut als wir nach New Jersey kommen. Doch uns erwartet etwas ganz anderes als ein trautes Heim.
An der Essex Avenue 82 in Glen Ridge, New Jersey, steht das Haus des Grauens. Nichtsahnend nähern wir uns, unschuldig und voller Vorfreude. Die Hausbesitzer haben das Haus erst am Vorabend bezogen, warnten uns vor, dass noch viele Kisten rumstünden. Wir schliessen die Türe auf, und es riecht gammelig, nach Hund. Überall sind weisse Hundehaare, Staub und Dreck. Einige Matratzen liegen herum, mit zerknüllten und verschwitzten Bettlaken (es ist heiss, keine Klimaanlage und 35 Grad draussen), in der Küche Schachteln halb gegessener Pizzas und Tassen abgestandenen Milchkaffees. Irgendwo liegt noch feuchtes Badezeug am Boden, das laut Moni nach totem Hund stinkt. Ich glaube ihr und prüfe nicht selbst nach. Ich vermeide weitere Details, kurz gesagt: Es ist übel. Aber nach einer Aktion, nach der wir den Sinn hinter dem Wort „Putzwut“ verstehen, wird das Haus halbwegs bewohnbar. Nachdem wir irgendwie noch einen Tisch und Sitzgelegenheiten zusammenbasteln, können wir sogar Abendessen.
Das Internet funktioniert nicht. Ich muss eine Arbeit für die Uni fertigmachen, Moni hat Textaufträge. Sie ist stinksauer. Wir müssen zu Starbucks ins Internet, wie WiFi Junkies oder, noch schlimmer, Hipsters. Nach einigen E-Mails mit den Hausbesitzern und Telefonaten mit Verizon sind wir schliesslich wieder mit der Welt verbunden und Ariel und Moni können sogar ein paar Folgen House of Cards schauen. Beim Essen oder unterwegs schmieden wir Rachepläne, denken uns aus, wie das Haus zurückgelassen werden könnte, um es den Besitzern heimzuzahlen. Es geht von unabgewaschenem Geschirr in der Spüle bis zu Urinproben im Kühlschrank. Immer wieder formuliert Moni neue Erklärungsversuche, welche den Zustand, in dem wir das Haus vorgefunden haben, rechtfertigen könnten. Immer wieder verwerfen wir diese. Es bleibt unerklärlich. Oder haben wir Schweizer vielleicht einen Sauberkeitsfimmel?
Nach zehn Tagen mit den beiden gehen wir am Sonntag zum Brunch nach New York. Dach eines Hochhauses, Live Jazz-Band. Das Essen ist gut, jedoch nicht speziell für diesen Preis, meint Moni. Dies ist mein letzter Tag, am nächsten Morgen geht es um 6 Uhr los auf den Bus nach Boston, wo ich ein Auto gemietet habe. Ich habe die Zeit mit Ariel und Moni genossen, hatte einen kurzen Einblick in das Leben der Berufs-Ferienmacher. Es sind ja nicht wirklich Ferien, die beiden haben sich einen Viertel ihres Budgets für die rund zwei Jahre unterwegs bereits wieder erarbeitet. Und wie bereits angetönt, das Reisen kann im Gegensatz zu Ferien durchaus anstrengend werden.
Die Frage, wie man sich ein Heimatskonzept konstruiert, wenn man permanent in Bewegung ist, kann nicht abschliessend beantwortet werden. Bei Moni und Ariel ist die Antwort jedoch denkbar einfach: Home is, where the Heart is. Anderthalb Jahre zusammen unterwegs, fast permanent aufeinander, von Highlights wie dem Haus am Meer bis zu Tiefpunkten wie dem Raubüberfall in Cali, von Herausforderungen wie dem Meditationskurs bis zu der gebrochenen Schulter in der Karibik: alles zu zweit. Das schweisst zusammen. Die beiden sind ein eingespieltes Team, auch wenn es ab und zu Reibungen gibt (zum Beispiel wenn Moni noch nach dem besten Flug in die Schweiz sucht während Ariel ungeduldig wird, da er schon lange einfach einen gebucht hätte). Sie nehmen sich auch ab und zu Zeit für sich selbst in New Jersey, Ariel geht nach New York fotografieren, Moni plant ihren kurzen Aufenthalt in der Schweiz, organisiert Treffen mit all ihren Freunden. Ich denke, wenn man einen guten Reisepartner hat, spielt es keine Rolle, wo man ist. „Zuhause“ ist ein dehnbarer Begriff, und Ariel und Moni haben ihn eingepackt und tragen ihn um die Welt. Zusammen.