Shanghai Blues

UFO

Schon bald sind wir weg aus Shanghai. Loslassen und aufbrechen ins Unbekannte ist noch immer nicht leicht. Und es drängen sich ein paar Fragen auf: Ist Zuhause alles besser? Sind wir nicht doch ein wenig bünzlig? Geniessen wir es genug?

Draussen fällt dieser heftige Nieselregen, der einen im nu tropfnass macht. Hier drinnen im Café läuft Singer-Songwriter-Country-Musik und es ist so richtig gemütlich. Ich bin leicht wehmütig, wie immer, wenn wir Abschied nehmen müssen von einem Ort, an dem wir eine Weile verweilen durften. Shanghai ist intensiv, interessant, anders. Wir haben es gut hier, auch wenn mir die Stadt nicht sonderlich gefällt. Die wichtigste Einsicht ist im Grunde beschämend: Wir fühlen uns oft da am wohlsten, wo es so ähnlich ist wie daheim. Gerade in grossen Städten. Wir lieben Quartiere, in denen es Cafés gibt, schöne Restaurants, kleine Läden, Bäckereien, Supermärkte und andere „westliche“ Annehmlichkeiten. Denn nach fast einem halben Jahr Feilschen, sind wir froh um Preisetiketten. Wir geniessen Cappuccino, Salat, Brot, Rühreier, Peanutbutter. Wir schätzen es, wenn unser Essen nicht von Thai-Pop, kambodschanischem Karaoke und vietnamesischem Techno untermalt wird. So weit sind wir nun schon. Wir, die Reisen wollen, um Neues zu entdecken.

Manchmal frage ich mich: Geniesse ich es genug? Ist das Reisen nicht zum Normalzustand geworden? Bin ich mir noch bewusst, was für ein Glück und wie schön wir es haben? Vielleicht muss ich das kurz erklären. Zwei Wochen Ferien sind anders als unser Unternehmen: In zwei Wochen will man die Zeit möglichst ausnutzen, viel erleben, alles sehen und jeden Augenblick geniessen. Das können wir nicht. Würden wir es versuchen, wären wir vermutlich nach sechs Wochen total erschöpft. Also kommt es vor, dass wir in Shanghai in unserer Airbnb-WG sind und es geniessen, wieder mal selber kochen zu können. Viel schlafen. Oder Nachmittage in einem Café verbringen, um zu lesen und zu schreiben. Dinge halt, die wir am Wochenende Zuhause auch tun würden. Das brauchen wir, um unsere Batterien aufzuladen. Trotzdem nagt es an mir – es gäbe ja noch so viel zu sehen da draussen und in ein paar Tagen sind wir schon wieder weg…

Seit bald einem halben Jahr sind wir in Ländern unterwegs, wo wir uns mit den meisten Leuten nicht unterhalten können, weil wir ihre Sprache nicht beherrschen. Ja, nicht einmal die Schriftzeichen können wir entziffern. “Hallo”, “Danke”, “Ja”, “Nein”, “Wie geht’s?” sind oft die einzigen Wörter, die wir lernen. Darum sind wir froh, wenn wir jemanden treffen, der gut Englisch spricht. Wie zum Beispiel Zou Xi Shi, in deren Wohnung Nummer 1002 im 10. Stock wir hier in Shanghai leben. Sie ist sehr interessiert und erzählt auch viel von sich, ihrer Kultur, ihrer Arbeit. Drei Monate im Jahr verbringt sie auf ihrer Tee-Plantage in den Bergen, spezialisiert auf erstklassigen biologischen Grüntee. Von da ist sie eben zurückgekehrt, die Tee-Ernte ist erledigt. Und jetzt beginnt ihr zweites Leben in der Grossstadt. Zusammen mit ihrem Mann, der kaum da ist und nur seinen Job im Kopf hat, währenddem sie neun Monate keiner festen Arbeit nachgeht, gerne verreist, gerne Eiskunstlauf macht, gerne Leute trifft und darum zwei Zimmer ihrer Wohnung an Fremde vermietet.

Leute wie Zou Xi Shi treffen wir nicht oft. Ab und zu kommt es vor, dass Moni oder ich oder wir beide nicht so begeistert sind von dem Ort, an dem wir uns gerade aufhalten, ohne genau sagen zu können, weshalb. Der Reiseblues trifft uns. Heimweh. Oder einfach grad keine Lust, schon wieder eine neue Umgebung zu entdecken. Dann möchten wir am liebsten zuhause sein, wo wir wissen, was wir wo erhalten, wie der Hase läuft und verlässlich planen können. Unser bequemes Bett, unsere Privatsphäre, Rückzugsmöglichkeiten und natürlich unsere Freunde fehlen uns. Unsere Leute, mit denen wir über ganz Banales reden und Spass haben können. Die uns einfach verstehen. Denen wir nicht alles erklären müssen.

Zum Glück haben Moni und ich uns noch immer viel zu sagen. Es ist erstaunlich, wie harmonisch, schön und respektvoll wir unsere Beziehung gestalten können, obwohl wir Tag und Nacht zusammen sind. Das macht mich stolz und es ist ein grosses Geschenk. Danke Moni, dass ich diesen Traum mit dir leben darf. Ich freu mich riesig auf alles, was noch kommt – jetzt erst mal drei Monate Japan.

3 Kommentare

  1. So ein wunderbarer Text! Ich wünsche euch tolle Momente in Japan. Ich war einmal 5 Tage in Shanghai – es war unglaublich eindrücklich, und am letzten Tag blieb ich im Hotel hängen, es war einfach zu viel .. 🙂

    Liebe Grüsse, Anita

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