Wie ich als Aussenstehender zum ersten Mal die Kultur Japans erlebt habe, drei Monate lang.
Eine Kultur, in der das Individuum nicht zählt. Die Gemeinschaft ist das Ein und Alles. Wer auffällt, negativ oder positiv, tanzt aus der Reihe, stört das Gleichgewicht, die Gleichheit aller. Und dafür wird sie oder er ignoriert und ausgeschlossen. Belohnt werden diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass dieses Gleichgewicht bestehen bleibt. Indem sie ihre Gefühle für sich behalten. Oder Andersdenkende mit bösen Blicken bestrafen. Oder jegliche fremden Einflüsse sofort abblocken. So entsteht eine Gesellschaft, in der alles Unangenehme verschwindet. Es ist eine auf künstliche Weise angenehme Welt – zu schön, um wahr zu sein.
Wie fühlen sich die Mitglieder dieser Gesellschaft? Was denken sie über uns, die wir vorgeben, alles machen zu können, wonach uns der Sinn steht? Und wie gehen sie damit um, nicht über diese Freiheit zu verfügen? Streben sie danach, fehlt etwas? Oder sind sie gar froh über Regulierungen und Codes? Wer ist nun wirklich frei und was heisst Freiheit überhaupt?
Die Kultur Japans hat eine sehr eigene Gesellschaft geschaffen. Als Aussenstehender, auffälliger Eindringling, war ich zuerst überrascht, wie freundlich und zuvorkommend ich behandelt wurde – angeblich sollen Touristen Japan in guter Erinnerung behalten, darum diese Freundlichkeit. Andere Aussenstehende, die sich seit Jahren darum bemühen, aufgenommen zu werden, haben mir von kleinen Barrieren und riesigen Hürden erzählt, die einen hier erwarten. Man fühle sich nicht selten in etwa so wie Jim Carrey in der Truman Show: Irgendetwas stimmt nicht, doch weil man nicht hinter die Kulissen sehen darf, bleibt einem die Wahrheit verwehrt. Fragt sich, ob die Japaner selbst hinter die Kulissen sehen oder einfach unwissend mitspielen? Beides wäre denkbar; die hohe Selbstmordrate und die vielen Vereinsamten könnten ein Hinweis sein.
Über 200 Jahre lang hat sich Japan total abgeschottet vom Rest der Welt. Die Amerikaner haben die Öffnung erzwungen, mit Kanonen, in Shimoda. Noch heute leben hier nur zwei Prozent Ausländer, die andern 120 Millionen sind Japaner. Wenige Einflüsse von aussen, kaum Einbürgerungen. Sehr förmlich der Umgang, sehr rücksichtsvoll, alles ist sicher und scheint streng geregelt. Überhaupt ist streng ein passendes Adjektiv, um die Kultur zu beschreiben. Streng und gewissenhaft, ein wenig verbissen, autoritär und gleichzeitig irgendwie drollig. Wenn die Japaner etwas anpacken, dann richtig: Wandern nur mit Extrembergsteigerausrüstung, am Strand mindestens Kühlbox, Zelt, Liegestuhl, Luftmatraze, Taucherbrille, Schnorchel und Flossen dabei.
Und dann trotzdem: Daido Moriyama, Haruki Murakami und ganz viele andere kreative Köpfe, die eher leise grosse Kunst schaffen. Vieles ist einfach schön hier, von den alten Tempeln bis zur aktuellen Mode. Und die Leute – nun ja, zu uns sind sie häufig wirklich nett. Zum Beispiel beim Autostopp: Das zweite Fahrzeug hält, eine Tochter mit Mutter und Grossmutter. Zum Einsteigen wird das Auto, wie es sich gehört, erst korrekt parkiert, dann die Route zu unserem Wunschort vom GPS abgefragt. Sie sprechen kaum Englisch und sind doch bemüht, mit uns eine Konversation zu unterhalten. Grosi schenkt uns zum Abschied Reissnacks, einfach so.
Das Ziel vieler ist es, bei einem grossen Unternehmen arbeiten zu dürfen, egal in welcher Position. Denn in Japan bewirbt man sich nicht auf bestimmte Jobs. Man geht zum Bewerbungsgespräch ohne zu wissen, was, wo und wie lange man später genau arbeiten wird, falls es denn klappt. Nach vielen Assessments (bis zu 20 bei Toyota) findet das Unternehmen eine geeignete Position für den Bewerber. Unmenschlich lange Arbeitszeiten, unbedingte Loyalität und absoluter Gehorsam werden gefordert. Kreativität und Produktivität: scheinbar zweitrangig.
Sich über jemanden lustig zu machen, das geht hier gar nicht. Das finden die Japaner nicht lustig. Auch Ironie verstehen sie nicht. Was wir hingegen häufig am eigenen Leib erfahren: Andere Leute auslachen ist erlaubt, wenn sie sich irgendwie auffällig verhalten, speziell kleiden oder einen Fehler machen. Ich wollte zum Beispiel im Sushi-Restaurant heisses Wasser vom Zapfhahn in meine Teetasse giessen. Ich hatte nicht mit Hochdruck gerechnet und war verdattert, als das Wasser alles Matchapulver in der näheren Umgebung verteilte. Unser Nachbarn zeigten mit dem Finger auf mich und kicherten hinter vorgehaltenen Händen.
Auch sonst kichern die Leute, aus mir oft unerfindlichen Gründen. Ich fühle mich dann fremd und verloren, weiss nicht, wie ich mich verhalten soll. Vielleicht extra daneben: Ich küsse Moni in aller Öffentlichkeit. Oder sehr angepasst: Niemandem in die Augen schauen, ganz ruhig sein, keine Gefühle zeigen. Beides scheint mir falsch. Ja, ich bin anders als sie. Wobei anders und falsch hier als eins und dasselbe angesehen werden — die Worte verwenden dieselben Schriftzeichen. Manchmal möchte ich die Japaner am liebsten schütteln, damit sie aus sich heraus kommen und irgend ein echtes Gefühl zeigen. Doch das tun sie angeblich nur, wenn sie entweder betrunken oder nackt sind.
Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck. Einerseits die vielen persönlichen Begegnungen, die Natur, die Kunst. Andererseits die Gewissheit, als Ausenstehender nie Teil dieser Kultur sein zu können, weil nicht hier geboren – doch ich bin froh, ein Fremder zu sein. Zu gleichgeschaltet ist die japanische Gesellschaft, zu harmoniebedürftig, zu unfrei. Aber schön und süss. Die Techniker am Boden winken zum Abschied, als unser Flugzeug zur Startbahn rollt. Sie sehen aus wie Plastikmännchen aus einer Spielwelt.